Univ.Prof. Dr. Rupert Vierlinger, ein großer oberösterreichischer Pädagoge, ist 86-jährig verstorben.
Er war einst Referent bei unserem Bundeslehrer_innentag und bis zuletzt regelmäßiger Besucher unserer Veranstaltungen. Bis zuletzt war er Kämpfer für eine offene, demokratische Gesellschaft und
Schule, für alternative, motivierende Leistungsbeurteilung, für gemeinsame Schule, gegen Nullbockleistungsgruppen.
Dr. Franz Keplinger, Rektor jener Hochschule, deren Gründungsrektor 1967 Vierlinger war (damals PädAk der Diözese Linz), hat in seinem Nachruf schön zusammengefasst. Ich hab ihn um den unten
abgedruckten Text ersucht.
Außerdem haben em. Bischof Maximilian Aichern, Schulamtsrektor Christoph Baumgartinger und ein Enkel Ruperts den Verstorbenen gewürdigt. Ein kurzer Nachruf steht auch auf phdl.at/news/newsdetail/news/nachruf-1
Gary Fuchsbauer
Nachruf
Sehr geehrte Frau Vierlinger, liebe Mathilde, sehr geehrte Trauerfamilie, geschätzte versammelte Trauergemeinschaft!
Wir trauern um den Gründungsdirektor der Privaten Pädagogischen Akademie der Diözese Linz, Herrn Universitätsprofessor Dr. Rupert Vierlinger.
Persönlich und im Namen der Hochschulgemeinschaft der Privaten Pädagogischen Hochschule der Diözese Linz darf ich dir, liebe Mathilde und ihnen, geschätzte Angehörige meine und unsere aufrichtige
Anteilnahme zum Ausdruck bringen.
Ein Nachruf kann in wenigen Worten nur fragmentarisch all das zusammenfassen, was am Ende des erfüllten Lebens von Dr. Vierlinger sinnstiftend und lebensbedeutsam in Erinnerung bleibt. Für uns
Christinnen und Christen ist es ein Abschied und Neubeginn – ein Innehalten – ein Zurückschauen, ein Erinnern in Dankbarkeit und Freude und ein schmerzvolles, mit Trauer erfülltes
Loslassen.
Erlauben sie mir, dass ich in einigen Gedanken, mein Erinnern in Dankbarkeit und Freude an das pädagogische Vermächtnis von Dr. Vierlinger zum Ausdruck bringen darf. Sein pädagogisches Schaffen,
sein Lehren und Forschen, seine bis zuletzt vorhandene beherzte Kraft für eine Pädagogik der Hoffnung und Vielfalt kreisten um eine zentrale Frage: Was ist eine gute, humane Schule? Angesichts
aktueller gesellschaftlicher und bildungspolitischer Entwicklungen ist das Vermächtnis nicht nur aktuell, sondern ist Anstoß und Inspiration für ein zukünftiges „Schule neu denken“!
„Die Feinde der Freiheit haben ihre Verteidiger stets umstürzlerischer Absichten bezichtigt. Und fast immer ist es ihnen geglückt, die Arglosen und Wohlmeinenden zu überreden.“ Bei seinem
Lieblingsphilosophen Sir Karl Popper fand Dr. Vierlinger Schutz und Unterstützung, wenn er ob seiner Ideen in Bedrängnis geriet, weil sie nicht in das übliche Denkschema von Pädagogik und Schule
passten. In seinem Buch „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ erinnert uns der Philosoph Sir Karl Popper daran, dass die Geschichte der Menschheit nicht einfach fortschreitet. Wir
Menschen sind es, die dafür verantwortlich sind, der Geschichte einen humanen Sinn zu verleihen. Jeder und jede von uns, ist Teil der Geschichte und an uns liegt es, in welche Zukunft wir
fortschreiten. Von uns hängt es ab, von unserer Wachsamkeit, von unseren Anstrengungen für eine offene Gesellschaft, für demokratische Institutionen, für eine menschliche Welt.
Das war eine der wesentlichen philosophischen Grundlagen für die Pädagogik Dr. Vierlingers. Er war davon überzeugt, dass es zur Gestaltung einer offenen und demokratischen Gesellschaft, für den
menschlichen Fortschritt die Kraft zur Utopie braucht. Aber dieser Fortschritt ist nicht radikal, „vor den Utopisten freilich sollen wir uns hüten. Sie streben den völligen Neubau der
Gesellschaftsordnung als ganzer an und wollen keinen Stein des alten Gebäudes auf dem anderen lassen.“ Das war nicht die Absicht Vierlingers! Vielmehr war er davon überzeugt, dass Schulen die
wichtige Aufgabe zukommt, Kinder und Jugendliche auf ein anspruchsvolles Leben und zur Mitgestaltung einer offenen und humanen Gesellschaft vorzubereiten. Welche Schule kann das leisten?
Mit der Gründung der Übungsschule für die Zehn- bis Vierzehnjährigen stellte er 1973 erstmals „sein“ Modell einer „echten“ Gesamtschule vor – keine „äußere“ Differenzierung mit Leistungsgruppen
sondern eine heterogene Schüler-und Schülerinnenzusammensetzung mit ausschließlich innerer Differenzierung. Wesentlich dabei war auch sein neues Beurteilungskonzept, das eine Alternative zur
herkömmlichen Ziffernbenotung darstellte. Das traditionelle Verfahren schien Prof. Vierlinger mit vielen Nachteilen behaftet, v.a. die individuellen Fortschritte der Schülerinnen und Schüler
würden nicht genügend gewürdigt. Das Modell der echten Gesamtschule war schon damals wissenschaftlich gut fundiert, wesentlich waren Dr. Vierlinger die sozialen, psychologischen, die humanen
Dimensionen einer so gestalteten Schule.
Dr. Vierlinger schreibt:
„Wir brauchen die Schule der Menschlichkeit. Niemand kann ohne Anerkennung leben. Der Wunsch nach sozialer Akzeptanz ist nun einmal eine anthropologische Grundkonstante. Die echte Gesamtschule
ist diejenige Erfindung, die in der Lage ist, diesen Teufelskreis der Ausgrenzung, der Selektion, des Wettbewerbs und der Beschämung zu durchbrechen. Sie gibt den schwachen Schülern die Vorbilder
zurück und befreit sie aus ihren Ghettos, in welchen sich der desinteressierte Blick des Einen im desinteressierten Auge des Anderen spiegelt und das Ergebnis „null Bock“ ist. Das Klima, das in
unseren Schulen herrscht, der Umgangston, die Formen der Konfliktbewältigung, das Ethos des Zusammenlebens werden zu Schicksalsfragen für das Kind und seine Bildung.“ Gute Schulen, so darf ich
die Vorstellungen und Konzepte Prof. Vierlingers interpretieren, sind Orte in der Kunst der Menschenbildung; menschenfreundliche Orte, wo Lernfreude und Glück, Wertschätzung und eine
fehlerfreundliche, humane Leistungskultur ein guter Nährboden für Bildung sind. Wo Kinder und Jugendliche lernen, respektvoll und wertschätzend sich selbst und anderen zu begegnen. Lernen, ihre
Talente und Fähigkeiten zu entfalten und die eigene Begrenztheit und Verletzbarkeit nicht zu verdrängen. Lernen, Anerkennung zu geben und Anerkennung zu empfangen.
Gute Schulen gibt es nur mit guten Lehrerinnen und Lehrern – dies mag vielleicht auch einer der Gründe gewesen sein, warum Dr. Vierlinger 1967 die Leitung der PADL übernommen hat.
In seiner Eröffnungsrede bei der Gründungsfeier der Akademie legte er seine Gedanken dar, welche Wertvorstellungen im christlich-humanistischen Geist gebildete Lehrerinnen und Lehrer
charakterisieren sollten: Sie müssen ihre Sinne schulen für die Nöte des Kindes. Sie werden im Lehren und Erziehen mehr nach dem Hirtenstab greifen wollen als nach dem des Richters. In der
Alternative zwischen dem Glück und der Angst des Kindes entscheiden sie sich für das Glück. Sie pflegen den Glauben an die angeborene Neugier der Kinder nach den in dieser Welt verborgenen
Schönheiten, Wahrheiten und Gesetzen. Kinder sehen sie nicht als Objekte harter Leistungsanforderungen sondern als einen Gedanken, den Gott gedacht hat. Ihren Beruf lernen sie zu verstehen
als eine großartige Gelegenheit für das Umsetzen der Maximen der Bergpredigt in den Alltag: den Hunger nach Anerkennung und Geltung in der Gemeinschaft, den Durst nach Gerechtigkeit in der
Zuteilung von Berechtigungen und die Sehnsucht nach den Antworten auf die Fragen nach den Gründen des Seins.
1980 folgte er einem Ruf der Universität Passau, die Stelle als Ordinarius für Schulpädagogik zu übernehmen. Die Möglichkeiten der gerechten Leistungsbeurteilung – direkte Leistungsvorlage statt
Ziffernzensuren und Notenfetischismus - die „Perspektiven einer humanen Schule“, die „offene Schule und ihre Feinde“ (Buchtitel) blieben auch hier wesentliche Themen. Als Bildungsforscher an der
Universität Passau machte er sich national und international einen Namen. Studienaufenthalte in den USA und England, zahlreiche Gastvorträge an in- und ausländischen Universitäten und viele
wissenschaftliche Publikationen geben davon ein beredtes Zeugnis.
Ich bin dankbar, dass ich Dr. Vierlinger als liebenswürdigen Menschen und leidenschaftlichen Pädagogen kennen und schätzen lernen durfte. Bis zuletzt war er „seiner“ Hochschule sehr verbunden. Er
nahm regen Anteil an den neuen Entwicklungen der Pädagoginnen- und Pädagogenbildung, besuchte viele unserer Feste und Feiern und hielt Vorträge. Ich bin dankbar für die vielen anregenden
Gespräche und Diskussionen. Was immer er auch sagte war wohlüberlegt und durchdacht. Sein feiner Humor, seine Klugheit, sein kritischer Geist und seine Menschlichkeit werden mir, werden uns
fehlen. Er war mir Mentor und Vorbild. Mit ihm geht ein großer Reformpädagoge und ein bewundernswerter Mensch. Ich werde ihm stets ein ehrenvolles Andenken bewahren. Sein pädagogisches
Vermächtnis ist mir bleibender Auftrag und Verpflichtung für unsere Hochschule.
Lieber Rupert!
Nicht umstürzlerisch warst du, uns hast du zur steten Erinnerung die Verteidigung der Freiheit und somit der Würde des Menschen ans HERZ gelegt, wenn du schreibst:
„Sapere aude!, wage eigenständig zu denken, haben wir bei Kant gelernt. Nur wenn Menschen dazu genügend Mut haben, kann eine Gesellschaft heraustreten aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit,
die der Feind einer jeden Demokratie ist.“ Und zuletzt:
Ein letztes Adieu, lieber Rupert!
Und ein tröstlicher Gedanke R.M. Rilkes:
„Und doch ist Einer, welcher dieses Fallen unendlich sanft in seinen Händen hält.“
Dr. Franz Keplinger, Rektor
Linz, Jänner 2019
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